Bilder einer Ausstellung

Eine Erinnerung an Viktor Hartmann


Im Sommer 1873 starb unerwartet im Alter von 39 Jahren der Maler und Architekt Viktor Hartmann, ein enger Freund Mussorgskijs. Das gemeinsame künstlerische Ziel, eine von westlichen Einflüssen unabhängige, nationalrussische Kunst zu schaffen verband die beiden Künstler. Sie trafen sich meist in einem Kreis von Gleichgesinnten, dem sogenannten „Mächtigen Häuflein“, zu dem auch der Kunstkritiker Wladimir Stassow gehörte, dem der Zyklus gewidmet ist.“Stassow wurde von den Freunden meist „Generalissimus“ oder „Bach“ genannt, da sein überlegenes Wissen den scherzhaft-respektvollen Vergleich mit der Universalität Joh. Seb. Bachs herausforderte.“ (Lini Hübsch, Mussorgskij, Bilder einer Ausstellung, München 1978, S.6)

Von Februar bis März im darauffolgenden Jahr veranstaltete Wladimir Stassow unter Mitwirkung des Petersburger Architektenvereins eine Hartmann-Gedächtnisausstellung.Beim Besuch der Ausstellung wurde Mussorgskij zu seinen „Bildern einer Ausstellung“ inspiriert

Im Juni 1874 schrieb Mussorgskij an Wladimir Stassow:

„Mittwoch, an irgendeinem Datum im Juni 1874.

Mein teurer Generalissimus! Ich arbeite mit Volldampf an den „Bildern“, wie ich einst am „Boris“ mit Volldampf gearbeitet habe; Töne und Gedanken schwirren nur so in der Luft; ich schlucke sie mit Heißhunger und finde kaum Zeit, alles aufs Papier zu kritzeln. Ich schreibe an der vierten Nummer-die Übergänge sind geglückt (dank den „promenades“). Ich möchte das Ganze möglichst bald und treffend zustande bringen. Mein geistiges Abbild erscheint in den Zwischenspielen. Bis jetzt halte ich es für gelungen. Ich umarme Sie und begreife, daß Sie mich dazu segnen – also geben Sie mir Ihren Segen!_

. . . Die Benennungen sind kurios: „Promenade“ (in modo russico); Nr. 1 „Gnomus“, Intermezzo („Intermezzo fehlt in der Überschrift); Nr. 2 „Il vecchio castello“, Intermezzo (auch ohne Überschrift); Nr. 3 „Tuilleries“ (Streit von Kindern nach dem Spiel); Nr. 4 „Sandomirzco bydlo“ (der Ochsenwagen“ ; „Ochsenwagen“ ist natürlich nicht darüber geschrieben, dieses nur zwischen uns). Wie herrlich arbeitet es sich!

Mussorjanin.

Dazu kommen noch die „Jüdchen“ (nach Hartmanns Bild).

Mussorgskij wählte für seine Komposition 10 Aquarelle und Zeichnungen aus. So entstand im Juni desselben Jahres innerhalb von etwa 3 Wochen ein Zyklus für Klavier, der eingeleitet wird von einer Promenade, die als Zwischenspiel in variierter Form manchmal zwischen den Bildern wiederkehrt.

Im Beiblatt zum Faksimile-Druck, Moskau 1975 beschreibt Dr. Emilia Fried die Titelseite der Urschrift:

Rechts oben: Spuren der ausradierten Bleistiftaufschrift „Hartmann“ (anscheinend ursprüngliche Benennung des Zyklus) und Signatur „Mussorgskij. Oben in der Mitte „Wladimir Wassiljewitch Stassow“ gewidmet. Im Zentrum des Blattes: „Bilder einer Ausstellung-Eine Erinnerung an Viktor Hartmann 1874“ Unten links, schräg: „An Sie, Generalissime, Veranstalter der Hartmann-Ausstellung, zum Andenken an unseren lieben Viktor den 27.Juni 74“. Unten rechts, schräg (blauer Bleistift, halbverwischt): „Zum Druck. Mussorgskij den 26.Juli, 74 Petrograd“.

Das Werk wurde erst 1886 veröffentlicht, fünf Jahre nach Mussorgskijs Tod. Wladimir Stassow, der enge Freund Mussorgskijs zur Zeit der Komposition der „Bilder einer Ausstellung“, fügte der Erstausgabe der Noten folgende Erläuterungen hinzu:

Gnomus“ – Die Zeichnung stellt ein Zwerglein dar, welches auf seinen krummen Beinchen sich tappig fortbewegt

Il vecchio castello“ – Mittelalterliches Schloß. Vor dem ein Troubadour sein Lied singt.

Tuileries“ (Streit der Kinder nach dem Spiel) – Eine Allee des Tuilerien-Gartens mit einer Menge von Kindern und Kinderwärterinnen.

Bydlo“ – Ein polnischer Wagen auf gewaltigen Rädern, mit Ochsen bespannt.

Ballett der Küken in ihren Eierschalen“ – Ein Bild Hartmanns zur Aufführung einer malerischen Szene im Ballett „Trilby“.

Samuel Goldenberg und Schmuyle“ – Zwei polnische Juden, der eine reich, der andere arm.

Der Marktplatz von Limoges“ (Die große Neuigkeit) – Französische Weiber in heftigem Streit auf dem Markt.

Catacombae“ – Auf diesem Bild hat Hartmann sich selbst dargestellt, wie er die Katakomben von Paris beim Schein einer Laterne besieht.

Die Hütte auf Hühnerfüßen“ (Baba Yaga) – Die Zeichnung Hartmanns zeigt eine Uhr in Form der Hütte der Baba-Yaga auf Hühnerfüßen. Mussorgskij fügte noch den Ritt der Baba.Yaga auf dem Mörser hinzu. (Baba-Yaga ist eine Hexe der russischen Sage).

Das große Tor von Kiew“ – Die Zeichnung Hartmanns ist ein architektonischer Entwurf zu einem Statdtor in Kiew im massiven altrussischen Stil, mit einer Kuppel in Form eines slawischen Helmes.

 

Bilder-Ausstellung und Musik

Es ist ein gängiges Mißverständnis, man könne auf Grund der Überschriften, die sich auf die Bilder Hartmanns beziehen – Mussorgskij hat sie deshalb in Anführungszeichen gesetzt - „etwas Genaues“ über die Musik erfahren. Sie sind nur Hinweise auf den Charakter der einzelnen Stücke. Musik ist eine Tonkunst, die sich ausschließlich in Tönen mitteilt. Das, was die Zuhörer an den „Bildern einer Ausstellung“ begeistert, ist die Musik Mussorgskjis und nicht die Bildüberschriften, nicht die Erläuterungen Stassows, auch nicht die harmlosen Bildchen von Hartmann, die ohne Mussorgskijs „Bilder“ schon längst vergessen wären.(siehe Beiblatt zum Faksimile-Druck von Dr. Emilia Fried)

So schreibt Vassilij Kandinskij :“Die Musik ist aber keineswegs „Programm-Musik“ geworden. Wenn sie etwas „widerspiegelt“, so sind es nicht die gemalten Bildchen, sondern die Erlebnisse Mussorgskijs, die weit über den „Inhalt“ des Gemalten stiegen und eine rein musikalische Form fanden.“(zitiert nach Lini Hübsch, S. 53)

Leonard Bernstein schreibt in“Eine Einführung in die Welt der Musik“ ( Tübingen 1969) zum Thema „Was bedeutet Musik?“, in der er auch auf die „Bilder einer Ausstellung eingeht „Die Bedeutung der Musik liegt in der Musik selbst und sonst nirgends.““Ein Bild wird durch Musik nur deswegen hervorgerufen, weil der Komponist es sagt, aber es gehört nicht wirklich zur Musik. Es wird beigefügt.“

Auch Lini Hübsch meint: “Doch ist der Begriff der „Programm-Musik“, wie er für das neunzehnte Jahrhundert von Berlioz bis Richard Strauss gültig war, kein Etikett für die „Bilder einer Ausstellung“.

Wenn auch Mussorgskij den künstlerischen Rang des Malers Hartmann sicher überschätzt hat, so haben doch seine Bilder ihn zu einem genialen Kunstwerk inspiriert.

Die 10 Bilder Hartmanns waren also für Mussorgskij Inspirationsquelle.Zum Teil denkt sich Mussorgskij musikalische Szenen in die Bilder hinein.

In einem Konzert-Programm vom 28. Juni 1981 habe ich versucht, die Überschriften mitsamt den Bildern, soweit vorhanden, als auch die Erläuterungen von Stassow und den Notentext so zusammenfassen, daß der Ausdruckscharakter der Stücke verbal plausibel zum Sprechen gebracht wird:

Z.B.:Gnomus - Ruckartige, drohende Bewegungen und flehende Gesten eines häßlichen Zwergs mit krummen Beinen. Eine Anklage des „erniedrigten und beleidigten“ (Dostojewskij) Gnom.

Oder: Il vecchio castello – Mittelalterliches Schloß. Tiefe Traurigkeit (con dolore) einer slawischen Melodie entfaltet sich über einem das ganze Stück hindurch gleichbleibenden todesstarren Baßton.

Oder : Bydlo- Ein von Ochsen gezogener polnischer Leiterwagen auf gewaltigen Rädern. Stampfende Ochsen und ein rumpelnder Wagen, auf dem ein Bauer sitzt und ein Lied singt. Ein musikalisches Bild von barbarischer Gewalt und von eindringlicher Monotonie, dessen Prozeß der Auflösung den Ausdruck von existentieller Verlorenheit beschwört.

 

Welche Bedeutung hat die Promenade für Mussorgskij?

Mussorgskij verwendet zur Erläuterung der Promenaden im oben zitierten Brief an Stassow fünf verschiedene Begriffe:

Promenade

Übergänge

Zwischenspiele

mein geistiges Abbild

Intermezzo.

Mussorgskij betrachtet seine Promenade offensichtlich unter verschiedenen kompositorischen Aspekten und das Wort Promenade gibt auch hier nicht den Inhalt der Musik wieder, sondern vermittelt zwischen den verschiedenen Bild-Überschriften von Bildern der Ausstellung. Man könnte jedoch sagen,daß die immer wiederkehrende, variierte Promenade nach Mussorgskijs eigenen Worten sein sich immer wieder wandelndes „geistiges Abbild“ bei seinem Gang durch die Ausstellung sei, obwohl man sowohl für das „geistige Abbild“ als auch für den Gang durch die Ausstellung keinen musikalischen Beweis erbringen kann.

Einen Zugang zum Geist der russischen, dämonischen Welt Mussorgskjjis finden wir vielleicht am besten durch die Lektüre von Dostojewskijs Romanen. In Mussorgskijs autobiographischer Skizze nennt Mussorgskij auch Dostojewskij und rechnet ihn zu den Schriftstellern, die seine geistige Entwicklung gefördert haben. (Worbs, Mussorgskij, S.69) „Am 28.Januar stirbt Dostojewskij in Petersburg ... Am 4.Februar findet eine Trauerfeier zum Gedächtnis Dostojewskijs statt, bei der Mussorgskij sich an den Flügel setzt und eine Trauermusik mit Glockengeläute, ähnlich der Sterbeszene des „Boris“, improvisiert.“ (Kurt von Wolfurt, S.126)

Beim ersten Hören Anfang der 50iger Jahre war ich sehr beeindruckt von den „Bildern“, obwohl ich weder etwas von den Überschriften, noch von den Erläuterungen, noch von den Bildern gewußt habe. In den folgenden Jahrzehnten habe ich die „Bilder“ oft gespielt im Konzertsaal, auf Schallplatte und im Musikunterricht des Gymnasiums, aber nie habe ich dabei auch nur einen Moment lang an Mussorgskijs Überschriften oder an die Bilder Hartmanns oder an die Erläuterungen von Stassow gedacht.

 

Zu Neuen Ufern!“

Dazu schreibt Alfred Einstein in „Romantik in der Musik“ S.368 „Mussorgskij war ein Revolutionär. Kurz vor seinem Tod hat er eine autobiographische Skizze entworfen, in der es heißt:“ „Weder dem Charakter seiner Kompositionen nach, noch in bezug auf seine musikalischen Anschauungen gehört Mussorgskij irgendeiner der bestehenden musikalischen Richtungen an. Die Formel seines künstlerischen Glaubensbekenntnisses ergibt sich aus seiner Anschauung über die Aufgaben der Kunst: Die Kunst ist ein Mittel zu Aussprache mit den Menschen, nicht aber Zweck an sich. Dieser Leitsatz bestimmt seine ganze schöpferische Tätigkeit.“

“Neues, Revolutionäres, „Zu neuen Ufern“ (siehe Mussorgskijs Briefe bei Kurt von Wolfurt), finden wir im barbarischen, herben Klaviersatz im „Bydlo“oder der „Hexe Baba Yaga“, die das „Allegro barbaro“ von Bela Bartok vorwegnehmen oder in den Tuilerien, wo zu Beginn zwei Akkorde rein klanglich, „impressionistisch“ miteinander abwechseln, „deren harmonische Bedeutung sekundär ist“( Dr. Gerhard Nestler, Geschichte der Musik, Gütersloh 1962, S.516). Im Eingang der Catacombae sind die Dissonanzen die Hauptsache, sie erscheinen weitgehend emanzipiert vom Auflösungszwang.

Mussorgskijs „Bilder einer Ausstellung“ mit ihrem herben, dissonanten Klangbild waren für die Zeit ihrer Entstehung ungewohnt und stießen deshalb auf Unverständnis der Zeitgenossen. Erst im 20. Jahrhundert fand eine große Hörerschaft Zugang zu den „Bildern“ über die gefällige Orchsterbearbeitung Ravels. Mussorgskijs radikale aesthetische Intentionen: „Darstellung der Wahrheit, wie bitter sie sei“ und „Zu neuen Ufern!“ realisieren sich jedoch nur in der Originalfassung für Klavier.

 

Bearbeitungen

Bearbeitungen mit dem Titel „Bilder einer Ausstellung“ sind nicht die „Bilder einer Ausstellung“ von Mussorgskij, auch wenn man durch Melodiefetzen an sie erinnert wird.Viele Stücke Mussorgskjis wurden durch sogenannte Verbesserungen und Bearbeitungen, etwa durch Rimsky-Korsakoff, entstellt und für das „feinfühlige Ohr“ genießbar gemacht. Erst seit dem frühen 20. Jahrhundert bemüht man sich, das unverfälschte Original wieder herzustellen. Inzwischen hatte die Entwicklung der Musik neue Hörgewohnheiten geschaffen, mit denen man nun auch einen Zugang zu Mussorgskjis Neuerungen fand.

Die Orchester-Bearbeitung von Maurice Ravel ist eine geniale Neuschöpfung, die aber die Substanz der Musik Mussorgskjis erheblich verändert hat. Die Klangfarbe ist nicht eine beliebige Zutat zur Musik: die zahmen Streicherfiguren am Schluß des Stücks oder das Saxophongenäsel im alten Schloß schwächen und karrikieren das Stück. Und die oft wiederholte Behauptung, die Orchestrierung habe „nur herausgeholt, was in Mussorgskijs Werk als erstaunlich dichte musikalische Konzeption vorhanden ist“ (Lini Hübsch, S.44), ist das Ergebnis eines mangelhaft differenzierenden Hör- und Einfühlungsvermögens.

Daß inzwischen ein Heer von unproduktiven Bearbeitern sich der „Bilder einer Ausstellung“ bemächtigt haben, ist in einer Zeit der totalen Umwertung aller Werte, besonders durch die inzwischen vorherrschende Pop-Musik, nicht verwunderlich. Sie sind allesamt schäbige Verfälschungen eines genialen Kunstwerks, das sich durch Einmaligkeit und nicht durch Beliebigkeit auszeichnet. Der Erfolg des Stücks ist weder Ravel, noch den vielen unbedeutenden Bearbeitern zu verdanken, sondern der lebendigen, kontrastreichen Vielfalt des musikalischen Geschehens und seiner großartigen Monumentalität.

 

Literatur

1 Mussorgskij, Bilder einer Ausstellung. Faksimile. Mit Beiblatt von Dr. Emilia Fried. Moskau 1975

2 Mussorgsky, Bilder einer Ausstellung, Neuausgabe nach dem Urtext von Alfred Kreutz, Edition Schott 525

3 Mussorgski, Bilder einer Ausstellung, Erinnerung an Viktor Hartmann, Schandert/Ashkenazy, Wiener Urtext Edition, Schott/Universal Edition

4 Modest Mussorgski, Briefe, Leipzig 1984 (191 Briefe)

5 Kurt von Wolfurt, Mussorgskij. Berlin-Leipzig 1927 (enthält im Anhang 86 Briefe Mussorgskjis im Auszug)

6 Lini Hübsch, Mussorgskij, Bilder einer Ausstellung. München 1978

7 Mussorgsky, Hans Christoph Worbs, Hamburg 1976

8 Dr.Gerhard Nestler, Geschichte der Musik, Gütersloh 1962

9 Alfred Einstein, Die Romantik in der Musik, Wien 1950

 

Horb, Dezember 2007

Gerhard Eckle